Historisch naiv
von cami am 03 Jul. 2009, gespeichert unter Allgemein
Eine Glosse
Heifetz und Co, aber auch diverse lebende Musiker, wie Vengerov, Mutter und Hahn – hindern Heerscharen von Musikschülern und Musikern daran den Lohn ihres Übens genießen zu können und erfolgreich zu sein. Jedenfalls würden sie, wäre er nicht endlich gefunden, der Ausweg aus der Perfektionsfalle: die historisierend naive Aufführungspraxis (Manchmal auch etwas unscharf bezeichnet als „historisch informierte Aufführungspraxis“, womit auf ihre Wurzeln in der vorsichtigen Annäherung an die Spielweise des jeweiligen Komponisten hingewiesen wird). Doch erst, seit die Masse der Musiker, Musikredakteure und Liebhaber zu Experten der Musikwissenschaft geworden sind, entwickelt sich das für die historisierend naive Aufführungspraxis typische neue Verständnis von “Musikalität”.
Gleichermaßen alle Musik jeden Zeitalters lässt sich durch die neue Aufführungspraxis veredeln, Hauptsache, man beachtet ihre Regeln: Eine verhauchte Bogenführung, die überdies den Vorteil hat, dem Künstler Unmengen an Bogenbezügen zu sparen. Kein Vibrato – was dem Schüler das mühevolle Erlernen verschiedener, kontrollierter Vibrati erspart. Auch das Aneignen der Bogentechnik ist damit obsolet, denn “historisierend naiv” ist nur die Bogenmitte. Völlig unnötig ist es geworden, einer Geige Klänge unterschiedlichster Farben zu entlocken, es reicht ein Ton und der gilt automatisch als historisch. So klingt Barock wie Romantik auch aus der Schülergeige wieder ursprünglich und echt.
Von besonderem Charme ist, dass sich das Fehlen der Geigentechnik hervorragend zur Kommerzialisierung eignet. Denn sollte sich der neue Trend möglicherweise als Sackgasse herausstellen, so bietet YAMAHAHA an, die fehlende Technik nachzurüsten. Beispielsweise durch das “Fußvibrato” – bei dem mittels Pedal der Ton der E-Geige moduliert werden kann, wobei wider erwarten häufig die Option “Heifetzvibrato” gewählt wird. Doch damit ist die historisierend naive Spielweise noch lange nicht am Ende. Im Gegenteil, sie macht auch vor den letzten Bastionen herkömmlicher Violintechnik nicht halt.
Besondere Aufmerksamkeit finden derzeit Überlegungen, die darauf hindeuten, dass auch auf die Intonation bislang viel zu viel Wert gelegt wurde. Neuere Forschungen haben nämlich ergeben, dass Komponisten nicht besonders gut hören. Abgeleitet wird diese Erkenntnis aus der Biographie Beethovens, der sich authentisch nur mit verstöpselten Ohren spielen lässt. Seit diese Ergebnisse der historisierenden Forschung von vielen Musikern umgesetzt werden, geht das Publikum in stringenter Umsetzung des historischen Sachverhaltes dazu über, auch das eigene Hörerlebnis durch das Einsetzen von Ohrenstöpseln aufzuwerten. Insbesondere Rundfunkprogrammredakteure sind von dieser Entwicklung begeistert – schraubt sie doch, nimmt man alles Wellenrauschen der Bänder zusammen und stellt es der Popmusik gegenüber, die Klassikquote in exorbitante Höhen. Kein Wunder finden sich in den Redaktionen die begeistertsten Verfechter der naiven Spielweise. Kurz, die neue Spielweise deckt alle Bedürfnisse und ist überdies leicht zu erlernen. Was will man mehr?